DFG Graduiertenkolleg 1608 / 1 Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive

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I.   Leitfragen und praxeologisches Erkenntnisinteresse

Was macht ein Subjekt? So lautet in aller Kürze die Leitfrage unseres Projekts. Das Subjekt ist in der so formulierten Frage grammatikalisch sowohl Subjekt als auch Objekt. Es wird etwas mit ihm getan, aber es wird auch selbst aktiv. In genau diesem Spannungsfeld bewegen sich unsere Überlegungen: Wir setzen das Subjekt weder als ein autonomes Zentrum der Initiative und des Handelns voraus, noch begreifen wir es als einen bloßen Effekt vorgängiger sozialer Strukturen. Vielmehr interessieren wir uns für jene Prozesse, in deren Verlauf Individuen zu Subjekten gemacht werden und sich auch selbst zu Subjekten machen, das heißt zu Instanzen, die von anderen in ihrer spezifischen Position als Akteure anerkannt werden – und sich auch selbst als solche anerkennen.

Subjekte sind für uns mithin Produkte kultureller Prozesse – und damit prinzipiell veränderbar, mitunter auch fragil. Wir bezeichnen diese Prozesse als Subjektivierung und interessieren uns vor allem für das Wie ihrer konkreten Verläufe und Erscheinungsformen. Diese Frage nach dem Wie ist praxistheoretisch motiviert. In praxistheoretischer Perspektive treten Subjekte nicht als die Ursprünge von Handlungen in den Blick, sondern es wird danach gefragt, wie Subjekte in Praktiken geschaffen werden und wie sie sich darin selbst bilden. Praktiken sind in dieser Sicht die Orte der Subjektbildung. Unter Praktiken werden dabei Komplexe geregelter, typisierter, eingeübter und fortlaufend wiederkehrender Handlungsmuster verstanden, in die sich die Menschen in ihrem Tun und Handeln gleichsam verwickeln. An Praktiken sind nicht nur Menschen, sondern auch andere „Ko-Akteure“, etwa Raum- und Zeitordnungen oder die materiellen und symbolischen Artefakte der Umgebung – Sprache, Bilder und Dinge – beteiligt. Subjektivierungen vollziehen sich in der aktiven Auseinandersetzung mit allen diesen Mitspielern des Sozialen ebenso wie mit der eigenen, immer schon gesellschaftlich geformten Natur.

Der Begriff der Praxis ist damit im Konzept der Subjektivierung im Grunde bereits enthalten: Jede Subjektivierung geschieht in Praktiken. Wenn wir uns dennoch für die tautologische Überschrift „Praktiken der Subjektivierung“ entschlossen haben, dann deshalb, weil wir damit die für uns grundlegende, in den Begriff „Subjektivierung“ bereits eingefaltete praxistheoretische Perspektive entfalten und so offensiv markieren wollen.

Subjektivierungen finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern in von Regelmäßigkeiten, Kraftlinien und Machtstrukturen geprägten sozialen Welten bzw. Feldern. In diesen Feldern haben sich historisch je besondere kulturelle Typisierungen wie „der Adlige“, „der Unternehmer“, „der Autor“ oder „der Lehrer“ ausgeprägt. Wir bezeichnen diese Typisierungen als Subjektformen. Jede Subjektform ist dabei auf andere Subjektformen im entsprechenden sozialen Universum bezogen: der „Amtsadel“ auf den „Schwertadel“, der „Unternehmer“ auf den „Arbeiter“, der „Autor“ auf den „Leser“, der „Lehrer“ auf den „Schüler“. Das heißt, Subjektformen sind mit relationalen Subjektpositionen verknüpft.

Unsere praxistheoretisch inspirierte Annahme nun ist, dass konkrete Individuen diese Subjektformen auf eine erkennbare Weise verkörpern müssen, um einen in der jeweiligen sozialen Welt einen als legitim anerkannten Subjektstatus zu erlangen: Ihre Subjektförmigkeit muss sich an ihren körperlichen Auftritten zeigen. Sie muss durch die Einnahme bestimmter Haltungen, den Vollzug charakteristischer Gesten, durch spezifische Konsumstile oder auch ein symptomatisches Sprechen performativ beglaubigt werden. In diesem Sinne hat etwa Stuart Hall – in der Ära Margret Thatcher – einmal geschrieben, um als Brite anerkannt zu werden, reiche es keineswegs aus, englisch zu sprechen, sondern man müsse beim Sprechen auch die Lippen auf eine ‚britische’ Weise zu schürzen lernen.

Verkörperung bezeichnet also einen zweibahnigen Prozess: in der einen Richtung geht es um die allmähliche Inkorporierung der mit einer Subjektform verbundenen Anforderungen durch ein Individuum; in der anderen um die körperliche Darstellung und Beglaubigung der erworbenen Subjektförmigkeit für andere, eventuell auch für sich selbst. In der Praxis bedingen sich beide Dimensionen und fallen zusammen: In dem Maße, wie Subjektformen allmählich in Fleisch und Blut übergehen, können sie auch immer besser aufgeführt werden. Und an jeder Aufführung kann der Grad ihrer Inkorporierung beobachtet werden. Subjektivierung ist mithin ein öffentliches, beobachtbares Geschehen.

Die Einverleibung von Subjektformen kann durch explizite Erziehungsmaßnahmen wie Disziplinierung und Übung forciert werden. Sie geschieht aber auch durch eine implizite Pädagogik des Alltags, durch dauerhafte praktische Mitgliedschaft und aktive Teilhabe an einem sozialen Spiel. In jedem sozialen Geschehen bringen sich die Teilnehmer gegenseitig von ihren Subpositionen aus feldspezifische Aufmerksamkeiten entgegen: Sie nehmen im Vollzug einer Praktik permanent aufeinander Bezug und unterscheiden dabei zwischen regelhaften und regelwidrigen, passenden und unpassenden Aktionen. Akte, die aus der Praktik herausfallen, werden entsprechend sanktioniert. Andere Aktionen bewegen sich auf der Grenze, und wieder andere werden von allen Beteiligten als adäquate Ausdrucksformen der Praktik behandelt. In actu wird also durch kontinuierliche praktische Kritiken, Korrekturen und Sanktionen ein geteiltes praktisches Verständnis darüber hergestellt, was eine regelgerechte, der jeweiligen Subjektform adäquate Ausführung der Praktik ist. Die Praktik übergreift damit alle individuellen Aktionen; sie fordert ihre Teilnehmer dazu auf, individuelle Handlungen als einer Subjektform entsprechende Verhaltensweisen zum Beispiel des Arbeitens, Sprechens, Philosophierens oder auch Fußballspielens zu erzeugen. Durch aktive Teilnahme erwerben die Mitspieler fortlaufend ein praktisches knowing how und machen sich auf diesem Weg zu kompetenten Subjekten der Praktik. Ihre Subjektivierung erfolgt maßgeblich über verkörperte Darstellungen: Diese zeigen allen Beteiligten unmittelbar sinnlich, was geht, was nicht geht und – nicht zuletzt – wie es geht.

Subjektformen determinieren das individuelle Verhalten jedoch nicht, sondern stecken Spielräume ab. Ob und wie diese Spielräume genutzt werden können, hängt entscheidend von den Voraussetzungen und erlernten Dispositionen ab, die ein Individuum mitbringt. Dies hat zum einen die Konsequenz, dass der praktische Vollzug einer Subjektform auch scheitern kann, beispielsweise dann, wenn sich die verkörperten Vermögen und Dispositionen eines Individuum nicht den Anforderungen der Subjektform fügen, wenn sie einen nicht zu diesen passenden Eigensinn zeigen. Damit ist stets zu rechnen. Unser Interesse gilt somit auch derartigen Passungsverhältnissen sowie der Genese eines sich vollständiger Subjektivierung sperrenden Eigensinns in anderen, bereits durchlaufenen Subjektivierungsprozessen. Eine zweite mögliche Konsequenz ist, dass die praktischen Interpretationen einer Subjektform im Laufe der Zeit zu deren Verschiebung oder Destabilisierung führen – und damit auch zur Veränderung ihrer Beziehung zu anderen Subjektformen im jeweiligen Feld. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die Verkörperungen einer Subjektform durch eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure neuartige, sich von überkommenen Verhaltensstilen abweichende Regelmäßigkeiten aufweisen. So mag sich die Beziehung zwischen der Subjektform „Professor“ und der Subjektform „Studierender“ in dem Maße ändern, wie erstere anhaltend und regelmäßig in einem eher partnerschaftlichen denn autoritären Stil ausgefüllt wird. Es ändern sich dann die Subjektkulturen im wissenschaftlichen Feld, also jene Komplexe aus Praktiken, Diskursen, überwiegend impliziten Wissensordnungen und kulturellen Codes, in denen sich Individuen zu Professoren und Studierenden formen.

Damit ist zugleich der übergreifende Profit unseres Ansatzes für die Sozial- und Kulturwissenschaften angesprochen. Denn in der Perspektive der Subjektivierung geraten nicht nur die gesellschaftlichen Einflüsse auf Subjektbildungen in den Blick, sondern auch die Einflüsse konkreter Subjektivierungen auf soziale Konstellationen und kulturelle Semantiken: Im Kontrast zur Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft bezeichnet der Begriff Subjektivierung das spannungsvolle Ineinander des „doing subjects“ mit dem „doing culture“. Dabei kann der Akzent konkreter Dissertationsprojekte entweder stärker auf die von den Subjektformen ausgehenden Anforderungen oder eher auf die Aktivitäten der sich mit diesen Anforderungen auseinandersetzenden Individuen gelegt werden. Im ersten Fall würden die Subjektivierungsprozesse vorrangig aus der Perspektive der sozialen Felder in den Blick genommen werden, im zweiten Fall primär aus der Perspektive der sich selbst bildenden Individuen.

Mit dem Begriff der Bildung werden dabei explizit Formungs- und Erfahrungsprozesse bezeichnet, die man in der Teilnahme an sozialen Praktiken an und mit sich selber macht – mit der Betonung auf „machen“. Selbst-Bildungen sind in diesem Sinne Entdeckungs-, (Er-)Findungs- und Schaffensprozesse. Sie schließen die Transformation bereits übend gebildeter praktischer Vermögen in Praktiken des Spielens und des Sich-aufs-Spiel-Setzens mit ein. Diese Selbst-Bildungen und –Umbildungen finden im historischen Prozess zunehmend unter dem Einfluss von und im Umgang mit Bildern statt. Aus diesem Grund werden auch Bildanalysen und Untersuchungen visueller Praktiken in den Dissertationen eine prominente Rolle spielen. Die Veränderungen von Subjektformen und ihrer kulturellen, bildhaften Semantiken sind in dieser Sicht Vollzugsform sozio-kulturellen Wandels. Sie können damit zugleich in ihrer Indikatorfunktion für diesen Wandel untersucht werden.

Insgesamt wird mit dem Begriffspaar „Subjektivierung“ und „Selbst-Bildung“ ein begriffliches und zeitliches Spannungsfeld aufgemacht, das es erlaubt, Prozesse des self-making unabhängig von gängigen historischen Epocheneinteilungen entlang der triangulären Konstellation von Feldern, Formen und Positionen sowie Praktiken zu untersuchen. Wir benutzen diese Begriffe also vornehmlich als heuristische und analytische Konzepte, die es gestatten, den theoretischen Blick auch auf nicht-neuzeitlich-moderne Subjektbildungen auszuweiten. Ohne deren Untersuchung muss auch die Genese eines modern-neuzeitlichen Subjektverständnisses unverständlich bleiben. Erst auf der Folie vergangener Subjektkonzepte können die Besonderheiten eines neuzeitlich-modernen Verständnisses sowie jener Praktiken hervortreten, in denen es realitätsmächtig wurde.

Mit diesem dezidiert praxistheoretischen, scheinbar fraglos gegebene Subjektvorstellungen befragenden und somit befremdenden Programm nehmen wir uns zentraler Forschungsdesiderata der Sozial- und Kulturwissenschaften an. Dass die Subjektivierungsthematik seit einiger Zeit zu deren Brennpunkten gehört, ist nicht zu übersehen. Bisher existieren allerdings nur einzelne fachgebundene Untersuchungen normativer – schriftlich-textueller oder bildhaft-visueller – Subjektentwürfe, wie des „unternehmerischen Selbst“ in der Soziologie, aber es ist nicht gezeigt worden, wie sich diese Entwürfe mit diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken verschränken, wie sie von konkreten Individuen zueigen gemacht und (um-) gedeutet werden, und inwieweit die Individuen in den Prozessen ihrer Subjektivierung nicht nur sich selbst, sondern auch die Felder, Räume und Institutionen verändern, in denen sie agieren. Kurz, der Erforschung jener Prozesse, in deren Verlauf sich Individuen in gegebene Subjektformen hineinbilden, diese auf ihre je besondere Weise verkörpern und gegebenenfalls verändern, fehlt es bis heute an historischer und empirischer Tiefenschärfe.

II.  Beobachtungsperspektiven

Um diese Tiefenschärfe zu erlangen, werden Subjektivierungsprozesse vor allem aus zwei Perspektiven beobachtet. Zum einen richtet sich der Blickwinkel auf die Körper, auf Räume und Artefakte und fragt nach ihrer Bedeutung für Subjektivierungsprozesse. Der Körper wird, entsprechend des praxeologischen Ansatzes des geplanten Kollegs, nicht als passive Projektionsfläche, gleichsam als fertige „Visitenkarte“ eines idealen Selbst betrachtet. Vielmehr wollen wir den Körper als Medium und Schauplatz der Subjekt-Werdung beobachten. Damit verstehen die Antragsteller den Subjektivierungsprozess als auch körperliches Geschehen, das sich gleichzeitig in den Körper einschreibt und durch den Körper dargestellt wird. Wie dies geschieht, ergibt sich aus einem Zusammenspiel von ganz unterschiedlichen Kräften und Faktoren: Neben normierenden Texten und Vor-Bildern spielen dabei auch die Anordnungen und architektonischen Eigenarten von Räumen, in denen sich das Subjekt platziert und bewegt, eine entscheidende Rolle. Die Ausgestaltungen und Ausstattungen etwa von Arbeitszimmern, Schulräumen, Kinderstuben oder Forschungslaboren wirken disziplinierend, normierend und regulierend einerseits auf das körperliche Verhalten derjenigen ein, die sich in dem Feld bewegen. Sie haben andererseits auch Einfluss darauf, wie und was das Individuum wahrnimmt und fühlt, wie es denkt und urteilt. Abhängig von der Position, die die Akteure in den jeweiligen Feldern einnehmen, und entsprechend den Dispositionen, die sie mitbringen, verfügen die Akteure über unterschiedlich große Gestaltungsspielräume: Mit welchen Möbeln sich ein Subjekt umgibt, wie es sich kleidet, mit welchen Accessoires es sich schmückt und mit welchen Artefakten es hantiert, mit welchen Haltungen, Gesten und Mimiken es seinen „Auftritt“ inszeniert, an welchen Vor-Bildern es sich dabei orientiert – all dies sind Facetten der Selbst-Bildung, der Praxis Subjektivierung.

Die Bedeutung von Vor-Bildern im Selbst-Bildungsprozess führt uns zur zweiten zentralen Beobachtungsperspektive: dem Zeitfaktor des Phänomens, der Historisierung von Subjektivierungsprozessen. Denn: Einerseits ist ein Wandel von Subjektformen und Subjektivierungsweisen im Laufe der Geschichte wahrscheinlich und empirisch nachweisbar. Andererseits gehören zum Prozess der Selbst-Bildung immer auch Komponenten des Aufgreifens, Aneignens, des Umformens und Umdeutens bereits existierender Subjektformen. Das Individuum kann in seinem Subjektivierungsprozess auf historische Vor-Bilder zurückgreifen, und es tut dies auch – mal mehr, mal weniger – bewusst. Hat auch jeder historische Kontext seinen spezifischen anerkannten Subjektstatus, seine spezifischen Beziehungsstrukturen zu den Ko-Akteuren und ihren Handlungsfeldern, ist dieser doch nicht völlig losgelöst von vorgängigen Subjektmodellen. Wie man etwa als Beamter oder Lehrerin, als Unternehmer oder Politikerin auftritt, sich kleidet, was wie konsumiert, wie man spricht und mit welchen Gegenständen man sich umgibt, um einem anerkannten Subjektstatus zu entsprechen, ist historisch höchst variabel und in der Regel ein Ensemble von tradierten und innovativen Elementen.

Doch Subjektivierungsprozesse sind nicht nur historisch variabel, sondern auch, so unsere These, in Variationen in allen historischen Epochen zu beobachten. Finden wir nicht bereits in der Antike, im Mittelalter und der frühen Neuzeit Varianten von Praktiken der Subjektivierung? Indem Subjektivierungsprozesse im historischen Längsschnitt untersucht werden sollen, wird die gängige Gleichsetzung von Subjekt und Moderne kritisch hinterfragt, ohne seine qualitativ neue Dimension der Neuzeit aus den Augen zu verlieren. Gerade durch den komparativen Ansatz lässt sich diese qualitative Veränderung seit dem 18. Jahrhundert klarer konturieren. Wir gehen davon aus, dass jede Zeit – von der Antike bis zur Zeitgeschichte – ihren wandelbaren Bestand einflussreicher Gebräuche und Wissensarsenale hat, auf die die Akteure zurückgreifen können, um sie sich anzueignen und anzuverwandeln. Sie verhelfen im jeweils spezifischen historischen Kontext dazu, sich als Subjekte zu zeigen, die mit ihrer Welt, um es salopp zu formulieren, klarkommen.

Aber auch, dass sie in der Lage sind, diese Welt durch ihre Selbst-Bildungs-Prozesse zu verändern. Denn auch wenn in den Subjektivierungspraktiken auf historische Vorbilder zurückgegriffen wird, geschieht dies in der Regel immer in einem zwischen Adaption, Verwandlung und Verwerfung changierenden Prozess. Besonders prägnant tritt dieses Aus-Handeln und Um-Justieren in der Geschichte in sozialen Kämpfen und kulturellen Konflikten zutage. Etwa, wenn neue gesellschaftliche Formierungen auf den Plan traten, die herrschende Elite herausforderten und Einflusskraft und Deutungsmacht beanspruchten. Das aufstrebende Bürgertum, das in seiner dezidierten Frontstellung gegenüber dem Adel gegen Ende des 18. Jahrhunderts einen Schlüssel zur Selbst-Bildung sah, ist dabei ein Beispiel von vielen in der Geschichte. In allen Epochen, davon gehen wir aus, lassen sich Phasen finden, in denen dominante oder hegemoniale Subjektformen re-arrangiert, umgedeutet, manchmal auch de-legitimiert wurden. Im Prozess der Subjektivierung bildet sich somit nicht nur ein Subjekt, sondern dieser Prozess ist immer auch Anstoß zur Veränderung von bislang vorherrschenden Subjektformen. Durch ihre Selbst-Bildung tragen Subjekte nicht nur zur steten Reproduktion, sondern auch zur Transformation gesellschaftlich strukturierter Spielräume bei.

Im systematischen historischen Vergleich, der im historischen Längsschnitt nach Ähnlichkeiten und Unterschieden fragt, sollen solche Re-Formulierungen und Transformationen rekonstruiert werden. Gleichsam wie in einem Brennglas gebündelt werden über die Analyse konkreter Subjektivierungspraktiken auch Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen beobachtbar – und damit die gesellschaftstransformierende Dynamik, die von Subjektivierungsprozessen ausgehen kann. Dies erlaubt neue Erklärungen für gesellschaftlichen Wandel, sozio-kulturelle Verwerfungen und Neu-Orientierungen im Laufe der Geschichte.

III. Interdisziplinarität

Um dieses Untersuchungsprogramm durchführen zu können, ist Kooperation nötig. Die Antragssteller des Graduiertenkollegs stammen aus sechs Fächern, weitere Fächer kommen durch die Kooperationspartner hinzu. Damit sind wichtige Disziplinen, von denen methodische Innovationen der Geisteswissenschaften ausgingen, im geplanten Graduiertenkolleg vertreten. Dazu kommen solche Fächer, die den etablierten Methodenkanon und die erprobten Fragestellungen durch neue Perspektiven erweiterten und erweitern. Auf diese Weise ist dreierlei gesichert:

  • ein breites Spektrum an Methoden und Fragestellungen
  • eine sichere Grundlage solider Methoden und Perspektiven
  • und damit die Möglichkeit zu methodisch fundierten, aber zugleich vielfältigen, anregenden Fragestellungen.

Die Gefahr eines interdisziplinären Zugriffs ist natürlich, dass eine Vielzahl von Fächern einfach addiert wird, ohne dass ein wirkliches Gespräch zustande kommt, ohne dass Interdisziplinarität tatsächlich einen intellektuellen Ertrag abwirft. In dem beantragten Graduiertenkolleg dagegen kooperieren Fächer, deren Vertreter teilweise selbst schon seit Jahren interdisziplinär forschen oder die durch die Denomination ihrer Stelle geradezu auf Interdisziplinarität festgelegt sind.

Außerdem wird die Interdisziplinarität durch ein spezifisches Verhältnis der Fächer zueinander gewährleistet. Jedes Fach hat seine methodischen Grundlagen und eigenen Traditionen und Techniken, wissenschaftliche Fragestellungen zu entwerfen und zu beantworten. Deshalb ist der Blick der Kunsthistoriker, Historiker, Philosophen oder (Sport-)Soziologen auf das Thema Subjektivierung jeweils anders. Sehr verkürzt gesagt konzentriert sich die Kunstgeschichte auf visuelle Praktiken, die Geschichte auf Zeitstrukturen, die Theologie auf die Perspektive des Anderen unter Voraussetzung einer Gottperspektive, die Sportsoziologie auf Verkörperungsprozesse, die Literaturwissenschaft auf sprachliche Strukturen und die Philosophie auf diskursive Praktiken der Selbstreflexion. Jede dieser Perspektiven hat ihre Stärken und blinden Flecken. Wenn nun diese unterschiedlichen Fächer aufeinandertreffen, geschieht dies anders als etwa in den Ingenieurs- oder Naturwissenschaften, wo es oft darum geht, ein genau definiertes Problem durch die Synthese unterschiedlicher Expertise zu lösen und eindeutige Lösungen am Ende dieses Prozesses stehen (etwa die Optimierung eines Windrades). Im Graduiertenkolleg sollen dagegen die Perspektiven der Fächer die der jeweils anderen produktiv irritieren. Und das heißt: die einzelnen Fächer sollen nicht nur ihre Expertise in Sachen Subjektivierung bereitstellen, sondern die Perspektive der anderen Fächer

  • inhaltlich ergänzen
  • kritisch hinterfragen
  • methodisch stimulieren.

Interdisziplinarität heißt gerade nicht, eine „Lösung“ zu finden, sondern die jeweils anderen Perspektiven durch Fragen zu verändern und die Praktiken der Subjektivierung durch gegenseitig aufeinander reagierende Perspektiven zu umkreisen und in seiner Vielfältigkeit zu analysieren. So könnten z.B. Subjektivierungspraktiken in Wirtschaftsunternehmen aus sportsoziologischer Perspektive als Trainingsprozesse oder aus musikwissenschaftlicher Sicht als Jazzimprovisationen aufgeschlüsselt werden. Derart werden Modelle aus Bereichen übertragen, die auf den ersten Blick vollkommen fremd erscheinen. Sie helfen, einem informellen, verkörperten Praxiswissen auf die Spur zu kommen, das unterhalb expliziter, intentionaler Handlungsmuster liegt, weil sie die Aufmerksamkeit auf Praktiken lenken, die ihrerseits weitgehend implizit funktionieren und in einem vorhergehenden Schritt durch Musik- bzw. Sportwissenschaftler aufgeschlüsselt worden sind. Oder es wird eine analytisch-reflektierende Schleife durch die Geschichte gezogen: Gegenwärtige Subjektkonzepte dienen dazu, historische Subjektivierungsformen zu erschließen und dann zu prüfen, wie diese durch die Zeit und über verschiedene Felder hinweg adaptiert, re-artikuliert und umgearbeitet wurden — zugleich wird die Historizität der aktuellen Subjektivierungskonzepte aufgezeigt und damit die analytische Grundlage der strukturanalytisch verfahrenden Fächer kritisch hinterfragt. Gerade der Wechsel zwischen zwei Fächern stellt sicher, dass die Schleife nicht zu einer reinen Affirmation gegenwärtiger Theorien führt.

Zudem ist es unabdingbar, dass sich die Fächer bei der Auswertung des breiten Spektrums an Quellen, das zur Analyse von Subjektivierungspraktiken herangezogen werden muss, helfen. Ego-Dokumente, Manuale, philosophische Traktate, Artefakte, Bilder, Haushaltsbücher, Testamente, theologische Flugblätter, Architektur usw. werden von den einzelnen Fächern unterschiedlich ausgewertet. Jedes Fach hat zum einen sein Monopol auf die Auswertung bestimmter Quellenarten, die Kunstgeschichte beispielsweise lehrt den Umgang mit Bildern, die Soziologie die Herstellung von oral history-Dokumenten. Zum andern erweitert der je fachspezifische Blick auf dieselben Quellen deren Auswertungspotential um ein Vielfaches.

Deshalb wird dieser Zugriff nicht zu Beliebigkeit führen. Es besteht zwischen den beteiligten Fächern eine Schnittmenge, da beispielsweise in der Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft bereits seit langem soziologische Methoden genutzt werden oder die (Sport-)Soziologie auch Visualisierungsprozesse analysiert. Des Weiteren teilen die Fächer das Interesse an einem forschungspraktischen Zugriff, d.h. Praxistheorien werden als eine Art Suchstrategie genutzt, um das empirische Material im Hinblick auf die Fragestellung des Kollegs zu erschließen. Und schließlich haben die Antragsteller in einem mehrjährigen Diskussionsprozess die fachspezifischen Sprachspiele und Begrifflichkeiten so aneinander angenähert, dass ein gemeinsames Sprachspiel entstanden ist. Es gibt deshalb zwischen den beteiligten Fächern eine breite Zone der Kongruenz, die eine verhältnismäßig homogene Analyse der Praktiken der Subjektivierung erwarten lässt. Gleichzeitig bleibt der methodische „Eigensinn“ der Fächer hinreichend groß, dass die eben erwähnte Irritation durch immer neue Fragen gewahrt bleibt. Diese Form der permanent sich in Aushandlung befindlichen Interdisziplinarität gewährleistet also das innovative Potential des Graduiertenkollegs, ohne in die Heterogenität nur miteinander addierter Fächer auszufasern. Die Stärken der einzelnen Fächer werden genutzt, zugleich deren Begrenzungen anerkannt und durch den multiperspektivischen Zugriff transzendiert.

Der historisch-praxeologische Ansatz ist bislang nur ansatzweise in empirische Untersuchungen umgesetzt worden, erst recht ist eine entsprechende interdisziplinäre Methodologie kaum ausgearbeitet worden. Sie auszuarbeiten, wird eine prominente Aufgabe des Kollegs sein.