DFG Graduiertenkolleg 1608 / 1 Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive

Christian Fritz-Hoffmann

Promotionsprojekt

"Berührungsregime. Zur sozialen Reproduktion und Verkörperung von Behinderung "

Abstract

Die Idee über Berührungsordnungen zu schreiben, entstand aus Erfahrungen mit der Pflege behinderter Menschen. Im Alltag behinderter Menschen geht es oftmals darum, wie man von wem, wann, wo und wie oft angefasst, angeguckt, angesprochen wird. Die Lebensqualität der betroffenen Menschen wird von solchen Begegnungen sehr geprägt.

Der Begriff der Berührung scheint in solchen Kontexten normativ aufgeladen zu sein: Berührung ist eher etwas Sanftes und Harmonisches, sie ist schön und schätzenswert. Auch wenn diese Bedeutungsfacetten des Begriffs sicherlich anzutreffen sind, führt ein solcher Fokus von anderen Facetten des Wortes weg. Berührung eröffnet den Blick auf mehr Dimensionen als haptisch-taktiles Anfassen: z.B. Zwei Tangenten berühren sich, Sie war peinlich berührt usw. Berührung kann durch Blicke vollzogen werden, durch Worte und Gesten, Anfassen oder bloße Anwesenheit.

Weitet man den Begriff aus, so eröffnet sich einerseits ein spannendes Forschungsfeld (Ordnungen des Berührens in Fußgängerzonen, in Straßenbahnen, in Kinos usw.), andererseits entsteht aber das Problem, wie die Beobachtungskategorie auf beobachtete Phänomene bezogen ist, wenn dort nicht explizit von "Berührung" die Rede ist. Ein Ziel meiner Arbeit ist es daher, Berührungsordnung als Analysekategorie sozialtheoretisch zu formulieren. Bei dem Versuch, die Bedingungen der Möglichkeit von Berührung zu klären, wird deutlich, dass Berührung im allgemeinen Sinne neben Kommunikation als ein konstitutives Moment sozialer Praktiken begriffen werden kann. Berührungen stellen soziale Relationen her, bedingen und reproduzieren somit soziale Praktiken. Anhand eines sozialtheoretisch ausformulierten Berührungsbegriffs wird klar, dass Sozialität nicht ohne deren leibliche Verkörperung begriffen werden kann.

So betrachtet, kann der Behinderungsbegriff aus einer anderen Perspektive betrachtet werden. "Behinderung" ist, ergänzend oder alternativ zu medizinisch-rehabilitativen oder sozialkonstruktivistischen Modellen, eine kollektive Selbstbeschreibung, die kommunikativ an Berührungsregimes anknüpft.

Aktuell stellen Intimität und Privatsphäre wichtige Themen behindertenpolitischer Diskurse dar. Mein Projekt greift diese aktuelle Thematik auf und untersucht u.a. anhand von Interviews und teilnehmenden Beobachtungen die Differenzierung von Berührungsordnungen im Alltag behinderter Menschen. Z.B. wird sich ein Teil meiner Arbeit dem Thema Sexualbegleitung für behinderte Menschen widmen. Betreffende Situationen sollen kontrastiv mit anderen vermuteten Berührungsordnungen verglichen werden, wie z.B. Situationen im Krankenhaus oder in einem Pflegeheim. Erst aus der empirischen Analyse wird sich herausstellen, ob man es dabei mit einer Vielzahl, Überschneidung oder einem einheitlichen Berührungsregime zu tun hat. Ein zweites Ziel meiner Arbeit ist es Kategorien zur Analyse von Berührungsordnungen zu entwickeln und an gesellschaftlichen Phänomenen aufzuweisen. Dies ermöglicht eine empirische Perspektive auf Inkorporierungseffekte in Praktiken der Subjektivierung. Dabei richtet sich meine Arbeit vor allem an Pflegende, Betroffene, PflegewissenschaftlerInnen u.Ä. sowie SoziologInnen.

Im Einzelnen geht es dabei z.B. um Fragen wie:

- Wie wird Körperkontakt organisiert?

- Wie positioniert man sich wechselseitig als Wesen mit abgegrenztem Innenleben vor Dritten?

- Wie stellt man über den Körper Kontakt zum 'Innenleben' eines Anderen her?

- Wie werden 'Innen' und 'Außen' vermittelt? (z.B. erotische vs. pflegerische Berührungen)

- Wie wird über Berührungen (Körperkontakt mit Bezug auf alle Sinne) eine Situation eindeutig/mehrdeutig gemacht?

- Wer berührt (guckt an, fasst an, spricht an usw.) wen wie wo wann mit Bezug auf wen oder was?

(Arbeitsstand: Feb/2012)