DFG Graduiertenkolleg 1608 / 1 Selbst-Bildungen. Praktiken der Subjektivierung in historischer und interdisziplinärer Perspektive

Robert Mitchell

Promotionsprojekt

"Knowing in Motion. Bewegungssysteme zwischen Subjekten und Kulturdiskursen"

Seit den 90er Jahren ist durch eine ‚Transformation der Kulturtheorien‘ (Reckwitz 2008) der menschliche Körper in den Fokus von Sozialtheorien gerückt, einerseits als Träger kulturellen Wissens, der andererseits durch die alltägliche Performanz dieses Wissens zum Erhalt bzw. zur Veränderung sozialer Ordnung beiträgt. Dieser Vorstoß in Richtung einer konsequenten ‚Verkörperung des Sozialen‘ (Lindemann 2009) stellt innerhalb der Soziologie eine sozialtheoretische Kurskorrektur gegenüber einer nicht leicht zu überwindenden ‚quasi mentalistischen Bornierung‘ dar, die die Gesellschaft vorzugsweise aus körperlosen Engeln bestehen sieht. Mit meiner Dissertation werde ich zu dieser Kurskorrektur beitragen mit der ethnographischen Betrachtung von Situationen, in denen die ‚Bewegungssysteme‘ Ballett und Taijiquan (auch: Tai Chi) vermittelt werden. Mit Bewegungssystemen bezeichne ich Bündel aus kulturell hochgradig kodifizierten, explizit verkörperten Praktiken. In ihrer Kodifizierung stecken historische Einflüsse und kulturelle Diskurse sowie verschiedene explizite und implizite Wissensinhalte, die alle in Situationen, in denen Bewegungssysteme in und von Körpern vermittelt werden, in unterschiedlichem Maße präsent sind. Diese Situationen haben in Bezug auf Praktiken der Subjektivierung insofern exemplarischen Charakter, als in ihnen durch die praxistheoretisch zentrale Verknüpfung von neu zu erwerbendem Wissen und noch zu bildenden bzw. zu verändernden Körpern Subjekte mitunter buchstäblich gebildet werden. Durch den hohen Grad der kulturellen Kodifizierung dieser Bewegungssysteme ist diese Subjektivierung stets auch wiederum mit einer aktiven Reproduktion und womöglich Modifikation von kulturellen Diskursen verbunden. Diese exemplarisch klare gegenseitige Bedingung von ‚doing subjects‘ sowie ‚doing culture‘ bei der Vermittlung von Bewegungssystemen verspricht das sozialtheoretische Potential meines Projektes, da es praxistheoretisch bisher kaum befriedigend geklärt ist, wie die zentralen Größen von Wissen und Körper genau miteinander zusammenhängen und wie damit die Subjektbildung erfolgt (vgl. Reckwitz 2003: 297, 2008: 644ff.).

Die Bewegungssysteme Ballett und Taijiquan werden gewählt, weil sie aufgrund ihrer Historie, Teleologie und Entstehungskultur wesentliche Unterscheidungen in Bezug auf die Art des Wissens, das in ihnen zentral ist, und den Körper, den sie konzipieren und konstruieren, und damit insgesamt in Bezug auf ihre Praktiken der Subjektivierung erwarten lassen. Die zwei Bewegungssysteme im Vergleich bieten eine doppelte Optik: Sie fokussieren zum einen ihre Gegensätze in Bezug auf theoretisch zentrale Größen, sie erlauben jedoch zum anderen das Auffinden ihrer Gemeinsamkeiten, die theoretisch aufschlussreicher, weil allgemeiner, als ihre Gegensätze sein könnten.

Dem praxistheoretischen Erkenntnisinteresse entsprechend steht im Zentrum der empirischen Umsetzung des Projektes die ethnographische Beobachtung von Situationen, in denen die Vermittlung der Bewegungssysteme stattfindet. Dabei kommt als Hauptvehikel der Studie meinem eigenen Körper als Forschungsobjekt bzw. -subjekt (vgl. Amann und Hirschauer 1997: 25f.) besondere Bedeutung zu, mit dem, aufgrund eines ‚präsoziologischen Lebensabschnittes‘ als professioneller Ballett-Tänzer sowie im Sinne der körpersoziologischen Forderung nach einem ‚epistemologischen Korporalismus‘ (Gugutzer 2006), die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der betrachteten Bewegungssysteme und ihrer Praktiken der Subjektivierung sich buchstäblich aufspüren lassen werden.

Literatur

Amann, Klaus und Hirschauer, Stefan (1997): „Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm“ , in: Amann, Klaus und Hirschauer, Stefan (Hg.) Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie, Frankfurt am Main: Suhrkamp, 7–52.
Gugutzer, Robert (2006): „Der body turn in der Soziologie. Eine programmatische Einführung“ , in: Gugutzer, Robert (Hg.) body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports, Bielefeld: Transcript, 9–53.
Lindemann, Gesa (2009): Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Weilerswist: Velbrück. Reckwitz, Andreas (2003): „Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. Eine sozialtheoretische Perspektive“ , in: Zeitschrift für Soziologie 32, 282–301.
Reckwitz, Andreas (2008): Die Transformation der Kulturtheorien, 2. Aufl., Weilerswist: Velbrück.